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Valentin Gröbner, Professor am Historischen Seminar der Universität Luzern

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Valentin Gröbner

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In der feedback-Schlaufe

Worauf bezieht sich das «noch» in der Frage «Wozu noch Journalismus?» Als Historiker würde ich sagen: auf das Jahr 1964. Damals, im selben Jahr wie Marshall McLuhans «Understanding Media», erschien ein Buch von Stanislaw Lem, das «Summa Technologiae» hiess – keiner der Science Fiction-Romane, die den Polen berühmt gemacht haben, sondern ein höchst ernsthafter Versuch zur Logik technischer Entwicklungen. Darin gibt es ein lesenswertes Kapitel zur Informationsexplosion, die Lem in ironischer Parallele zum Rüstungswettlauf des Kalten Kriegs «die Megabit-Bombe» nennt. Was geschieht in einer Gesellschaft, wenn plötzlich unendlich viel Information für alle verfügbar wird, weit mehr als je gelesen, ausgewertet und verarbeitet werden kann?

Im Jahr darauf erschien Michael Frayns Roman «Tin Men». Der formulierte sozusagen die Antwort auf Lems Frage nach den Wirkungen der Informationsflut, und die hiess: elektronische Datenverarbeitung, medial umgesetzt. Das «William Morris Institute of Automation Research» entwickelt eine gewaltige Rechenmaschine, die komplette Zeitungen voller aktueller Nachricht produzieren kann. Der Supercomputer in Frayns Roman arbeitet unabhängig davon, was tatsächlich geschieht; er wertet vielmehr Umfragergebnisse aus, welche Berichte beim Publikum den grössten Erfolg gehabt haben, und variiert sie dann nach den Wünschen der Leser. Soll es jeden Monat einen Flugzeugabsturz geben oder öfter? Soll das Opfer im täglichen Mordfall ein kleines Mädchen, eine alte Dame oder eine schwangere junge Frau sein? Damit, so der strahlende Chef des Forschungsinstituts, werde es erstmals möglich, Zeitungen ökonomisch erfolgreich und gleichzeitig kostengünstig zu produzieren. Sein Untergebener, Spezialist für automatisierte Sportberichterstattung, träumt währenddessen davon, eine Roman zu schreiben, verbringt aber seine Zeit damit, hymnische Rezensionen auf sein eigenes literarisches Meisterwerk zu verfassen, das noch nicht existiert, plus vorgebliche Interviews mit dem hochbegabten Autor.

Die Abkopplung des Medialen und seine Selbstbestätigung in feedback-Schlaufen sind also möglicherweise um einiges älter als das Internet und die digitale Bauchrednerei in den Blogs. In der Online-Ausgabe des «Tages-Anzeigers» und einiger anderer Nachrichtenportale erscheinen heute diejenigen Schlaglinien zuoberst, die am häufigsten angeklickt werden – Michael Frayn und Stanislaw Lem hätte das eingeleuchtet. Wahrscheinlich steckt darin eine gute Nachricht. Unsere Befürchtungen über die Zukunft sind so eindringlich wirksam, weil wir sie schon kennen, aus der Vergangenheit. Der Boom des Medienbranche in den 1960er-Jahren war von Beginn an begleitet von düsteren dystopischen Prophezeiungen über die drohende Herrschaft von Simulation und Manipulation. Interessanterweise erscheinen ganz ähnliche Szenarien heute wieder, wenn von sinkenden Auflagen, schrumpfenden Anzeigeneinnahmen und der Verflüssigung aller Inhalte in der Bannerwerbung und Klick-Ökonomie des Internets die Rede ist.

Nachrichten und der Glaube an sie sind dem Fiktiven eng verbunden; möglicherweise sind sie einfach das moderne Gegenstück zur Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Nachrichten gleichen insofern religiösen Ritualen der Vormoderne, als sie ihren Konsumenten eine temporäre Ablenkung von alltäglichen Routinen verschaffen und die ebenso konstante Illusion einer Begegnung mit Ereignissen, die sehr viel grösser, authentischer und relevanter erscheinen als die eigenen. Wie religiöse Traktate und Predigten früherer Jahrhunderte, so hat der boshafte Peter Carey 1987 geschrieben, versorgten Nachrichten ihr Publikum mit einer konstanten Folge von Ereignissen, die sich jenseits des unmittelbaren Alltags- und Wahrnehmungshorizonts abspielen. Und wie die Schreckbilder der vormodernen Religiosität seien diese Nachrichten gerade dann beruhigend, wenn sie von Schrecklichem berichteten; denn dieses Bedrohliche lasse das Vertraute des eigenen Alltags umso spürbarer werden, und lasse sich obendrein dazu gebrauchen, der eigenen Gruppe den Status eines bedrohten Opfers zuzuschreiben. Der Bezug aufs vertraute Lokale steigert diese Wirkung noch – das hätte man den Bettelordenspredigern des 14. und den Flugblattschreibern des 16. Jahrhunderts nicht extra erklären müssen. Michael Frayns «Tin Men» auch nicht.

Was passiert nun, wenn der Journalismus sich heute seiner eigenen Krise annimmt? Nachrichten haben jenseits ihrer selbstgemachten Echo-Schlaufen auch reale Effekte – und zwar gerade dann, wenn es Rückkopplung geht. Im eigenen Alltag und gerade im vielgerühmten lokalen Kontext nimmt das häufig eher unangenehme Formen an. Denn auch das ist eine weitverbreitete Erfahrung der letzten Jahrzehnte: Wenn etwas als Nachricht und «Geheimtipp» in der Zeitung kam, war es damit vorbei – das schöne Wohnquartier mit den billigen Mieten, der stille Badeplatz am See, der gute Ort zum Essen oder zum Tanzengehen. Der Ort wurde dadurch anders, dass der Journalismus ihn entdeckte, und das, so wussten alle Beteiligten, war ein unumkehrbarer Prozess. Mediale Berichterstattung hat die Macht, ihre Gegenstände – das gilt für vergnügte Untergrund-Bands ebenso wie für „unberührte“ Ausflugsziele – in eigenartig unechte und grelle Kopien ihrer selbst zu verwandeln. Da ist es mir eigentlich fast lieber, wenn sich die Journalisten vornehmlich mit Selbstaufgeblasenem befassen, da kann nichts kaputtgehen. Und ihre Inhalte mit jener fiktiven Wunderwelt abstimmen, die die Ökonomie aller Nachrichtenmedien in den letzten Jahrzehnten stark mitbestimmt hat und die zum Wirklichkeitsgehalt der Nachrichten in einem interessanten dialektischen Kontrast steht – der Werbung.

Oder doch nicht? In jeder Stadt, die mehr als eine halbe Million Einwohner hat, so hat Sven Omdal, Chefredakteur der angesehehen norwegischen Zeitung Samtiden unlängst geschrieben, nimmt die politische Korruption massiv zu, wenn es dort keine Tageszeitung mehr gibt, die diesen Namen verdient.

Wenn Sie ihn verdient.

Haben Sie schon einmal einen guten investigativen Artikel im Internet gefunden, einfach so? Ach ja, wikileaks. Aber wo haben Sie davon gelesen?

Willkommen im Jahr 1964. Wo sind eigentlich die Beatles?

Geschrieben von Maz Blogger

23. August 2010 um 08:38

Abgelegt in Allgemeines,Kultur

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